10. Die Gegenwart der Leere

Die Trümmer lagen. Die Häuser gab es gar nicht mehr, nur eine Wand von der Maharshals-Synagoge war noch da. Ich suchte, wo unser Haus gewesen war, wo wir gewohnt hatten. Aber es gab nichts, nur Trümmer. Und so irrte ich umher. Ich weinte.

Ewa Eisenkeit, geboren 1919 in Lublin, aufgezeichnet 2010.

Ruinen der Maharshals-Synagoge auf dem Gelände des zerstörten jüdischen Viertels in Podzamcze in Lublin nach 1942.
Sammlung von Robert Rogowski.

Am 22. Juli 1944 wurde Lublin von der deutschen Besatzung befreit. Der Zweite Weltkrieg endete ein Jahr später, am 8. Mai 1945, in Berlin. Nach dem Krieg verlief eine physische, politische, soziale und kulturelle Grenze durch Deutschland, die Europa in ein demokratisches Westeuropa und ein Osteuropa unter sowjetischer Kontrolle teilte.

Im Juni 1946 kehrte ich nach Lublin zurück. Auf meinem Weg vom Bahnhof sah ich nicht ein bekanntes Gesicht. Zuerst ging ich zur Wohnung des Hausmeisters. Er sagte mir, dass niemand mehr da wäre. Man hatte sie alle getötet: meine Eltern, meine ganze Familie und alle anderen auch. Der einzige Trost, den er für mich hatte, war ein Brief,
in dem stand, dass meine Schwester noch am Leben sei und in Otwock wohnte. Im Umschlag steckte noch mein Schulausweis und ein paar Fotos von meiner Familie, von Freunden und Bekannten und von mir selbst. Mehr war mir nicht geblieben. Ich weiß, dass mich der Schmerz bis an mein Lebensende begleiten wird.

Symcha Wajs, geboren 1911 in Piaski, aufgezeichnet 1999.

Das europäische Judentum war nahezu ausgelöscht – sechs Millionen Jüdinnen und Juden hatten die Nazis ermordet. Die Überlebenden konnten nicht und wollten nicht in ihre Länder zurückkehren, wo ihre Häuser zerstört oder von Einheimischen übernommen worden waren und ihre Gemeinden verloren waren. Nachkriegstraumata und antisemitische Gewalt in den Jahrzehnten nach dem Krieg veranlassten viele, die zunächst geblieben waren, auszuwandern.

Brache nach der Zerstörung des jüdischen Viertels in Podzamcze, Lublin, 1948.
Sammlung von Stanislaw Radzki.

Die Zerstörung des jüdischen Erbes setzte sich nach dem Krieg fort. Synagogen, Friedhöfe und Zeugnisse jüdischen Lebens verfielen, und die Erinnerung an die Vergangenheit geriet in Vergessenheit. Osteuropa – einst ein lebendiges Zentrum jüdischen Lebens – wurde zum Inbegriff von Massenmord und Verlust. Eine gewaltige Leere entstand im Herzen Europas, die bis heute sichtbar und spürbar ist.

Der jüdische Friedhof in Frampol, 2019. Im Vordergrund der Grabstein von Małka, Tochter von Chajim Eliezer, gestorben am 16. Adar I 5622, d.h. am 16. Februar 1862.
Autorin: Monika Tarajko.

1988 beschloss ich, meinen Söhnen zu berichten, was hier geschehen war. Wir fuhren nach Belzyce. Dort besuchten wir den Bürgermeister. „Ich bin mit meinen Söhnen gekommen. Wir suchen das Grab meines Vaters, dort, wo ich ihn begrub, und ich kann es nicht finden“, sagte ich zu ihm. „Kommen Sie mit“, antwortete er. „Ich werde es Ihnen zeigen.“ Wir gingen zu dem Ort, wo wir einst immer saßen. Und was fanden wir? Ein Ort, an dem immer noch junge Menschen sitzen. Bäume stehen dort. „Dies war der jüdische Friedhof“, sagte der Bürgermeister. Aber dort stehen es keine Grabsteine mehr. Nichts steht mehr dort.

Nimrod Ariav, geboren 1926 in Lublin, aufgezeichnet 2005.

Extras:

Ewa Eisenkeit

Symcha Binem Wajs

Nimrod Ariav

Sammlung von Stanisław Radzki