Anfangs sprach niemand darüber. Auch ich sagte meinen Kindern nichts. Als wir in Polen waren, sagte mein Sohn: „Jetzt kannst du es mir aber erzählen.“ Wir setzten uns abends zusammen, und ich erzählte ihm alles. „Dass du das durchmachen musstest, Mama!“, sagte er. „Unvorstellbar!“
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Regina Winograd, geboren 1927 in Lublin, aufgezeichnet 2006.

Seit 2002 realisiert das Zentrum „Grodzka Tor – NN Theater“ in Lublin jährlich Das Mysterium Licht und Finsternis im Gedenken an den Beginn der Auflösung des Lubliner Ghettos und der „Aktion Reinhardt“ am 16.3.1942.
Foto: Patryk Pawłowski, 16.3.2024.
Jüdinnen und Juden, die geblieben waren, versuchten, die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten. Beweise für die Verbrechen und Spuren jüdischen Lebens wurden gesammelt. Erste Berichte von Überlebenden wurden bereits im September 1944 in Lublin aufgezeichnet. Aus den Ruinen des Warschauer Ghettos wurde das von Emanuel Ringelblums Gruppe geführte Archiv ausgegraben.
Die Erinnerungskarten sind handschriftlich angefertigte Karten von Ortschaften aus der Vorkriegszeit, die von ihren ehemaligen Einwohnern wiederhergestellt wurden. Sie enthalten ein subjektives Bild des Gebiets, mit dem diese Menschen vertraut waren, das sich aber nach dem Zweiten Weltkrieg unwiederbringlich änderte und seinen multikulturellen Charakter verlor.

Die Erinnerungskarte der Ortschaft Siedliszcze am Fluss Wieprz aus den Jahren 1925–1939, gezeichnet von Tadeusz Mysłowski im Jahre 2005 auf Basis von Erinnerungen Genowefa Hochman.
Archiv des Zentrums „Grodzka Tor – NN Theater“ in Lublin.
Im Laufe der Jahre entstanden in Polen und im geteilten Deutschland offizielle Formen des Holocaustgedenkens, die die staatlichen Narrative und die geopolitische Lage widerspiegelten. An historischen Orten wurden Institutionen gegründet. Gedenktafeln und Mahnmale wurden errichtet. Neben der offiziellen Erinnerungspolitik etablierten lokale Initiativen ihre eigenen Formen von Erinnerungskultur. Sowohl in Polen als auch in Deutschland stellen sie sich bis heute lokalen und nationalen Tabus entgegen.

Gedenktafel „Stummes Klingelschild“ an einem ehemaligen „Judenhaus“ in der Käthe-Niederkirchner- Straße 35 (ehemals Lippehner Straße 35) in Berlin. Die Tafel zeigt die Türklingeln und Namen der früheren jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner dieses Hauses. Foto: Simon Lütgemeyer.

Licht der Erinnerung am Standort des jüdischen Viertels der Vorkriegszeit in Lublin.
Foto: Joanna Zetar.
In Lublin im Ghetto, in Majdanek und in Bełżec und in Łęczna in der Nähe von der Synagoge liegt meine Familie begraben. Hunderte von Jahren hatten sie dort gelebt, in Łęczna, in Lublin und in der Umgebung und es blieb keiner mehr. Wie kann man also damit leben?
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Sabina Korn, geboren 1933 in Łęczna, aufgezeichnet 2006.

Fragment der künstlerischen Installation „Nicht/Erinnerung des Ortes“ auf dem Gelände des Gedenkortes Umschlagplatz in der Zimna-Straße in Lublin. Die Installation ist ein Teil des Gedenkweges „Lublin. Pamięć Zagłady“ (deutsch: Lublin. Erinnerung der Shoah), der vom Zentrum „Grodzka Tor – NN Theater“ in Lublin im Jahre 2017 errichtet wurde.
Autorin: Tal Schwartz.
Materiały dodatkowe:
Das Mysterium Licht und Finsternis
Regina Winograd
Sabina Korn
Karten der Erinnerung

Das Mysterium Licht und Finsternis
Die grundlegende Form des Gedenkens an den Jahrestag der Ereignisse des 16. März ist das Mysterium Licht und Finsternis, das jedes Jahr nach Einbruch der Dunkelheit in Grodzka Tor stattfindet. Die Zeremonie fängt mit dem Vorlesen von Namen der Einwohner des jüdischen Viertels aus der Vorkriegszeit an, die höchstwahrscheinlich mit dem ersten Transport nach Bełżec deportiert wurden. Zunächst werden am Ort, wo sich vorher das jüdische Viertel befand, alle Lichter gelöscht. In der Dunkelheit leuchtet nur eine Lampe – die letzte Straßenlampe aus dem jüdischen Viertel, eine symbolische Lampe der Erinnerung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Grodzka Tors, in der Altstadt, bleiben die Lichter an und das alltägliche Leben geht weiter. Für einen Augenblick verwandelt sich das Grodzka Tor in ein Tor zwischen Licht und Finsternis und die an der Veranstaltung teilnehmenden Personen gehen in die Dunkelheit und begeben sich in die Richtung der Lampe der Erinnerung. An diesem Ort wird ein Grablicht angezündet – das Licht der Erinnerung, das anschließend von den teilnehmenden Personen, die den ehemaligen Weg der Juden zum Umschlagplatz entlang stehen, von Hand zu Hand überreicht. Die Veranstaltung endet an der Installation „Nie/Pamięć Miejsca“ (Deutsch: Nicht/Erinnerung des Ortes), die sich an der Stelle befindet, von wo die Transporte der Lubliner Juden ins Todeslager Bełżec abfuhren.
Das Mysterium Licht und Finsternis
Regina Winograd (Rykla Milsztajn) kam am 8. Oktober 1927 in Lublin als Tochter von Szlomo Milsztajn und Rywka, geboren Papier, zur Welt. Sie hatte fünf Geschwister: die Schwestern Rachela und Ester und die Brüder: Eliezer, Josef i Uszer. Bis 1939 lebte sie in Lublin in der Lubartowska-Straße 65 (heute Lubartowska-Straße 93). Ein Jahr lang besuchte sie die jüdische Schule in der Lubartowska-Straße und die weiteren fünf Klassen schloss sie in der Volksschule im Lubliner Stad tteil Czwartek ab.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges floh Regina zusammen mit ihrer Familie nach Rozkopaczew, wo sie sich bei einer polnischen Familie Pyła versteckten. Der Vater verdiente das Geld für seine Familie als Weber und die Mutter fertigte Medikamente für die Lokalbevölkerung und für landwirtschaftliche Nutztiere an. Die Familie hielt sich auf dem Land bis zu dem Moment auf, als die Situation wegen häufiger Besuche der Deutschen gefährlich wurde. Es wurde dann die Entscheidung getroffen, dass die Familie sich trennt. Regina Winograd ging mit ihrer Schwester Rachela nach Lublin und von dort aus fuhren sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Nach zwei Jahren schwerer Arbeit wurde Regina von den Amerikanern befreit und fing an, im befreiten Konzentrationslager Buchenwald nach ihrer Familie zu suchen. Zusammen mit dem Roten Kreuz kam sie in der Schweiz an, von wo aus sie 1947 versuchte, nach Israel auszuwandern. Sie gelangte für zwei Jahre nach Zypern, wo sie einen Bekannten aus ihrer Lubliner Vorkriegszeit heiratete und eine Tochter zur Welt brachte. Nach der Ankunft in Israel bot sie psychologische Beratung an und führte ein Ballettstudio. Regina Winograd hat einen Sohn und drei Enkelkinder. Zurzeit lebt sie in Bat Jam in Israel. Sie konnte niemanden aus ihrer Familie wiederfinden. Sie besuchte mehrmals Lublin und fühlt sich immer noch mit der Stadt eng verbunden.
Sabina Korn (geboren Syma Najberg) wurde am 31. Dezember 1933 in Łęczna geboren. Sie war das jüngste Kind von Fryda, geboren Rochman und Awracham Najberg. Sie hatte drei ältere Brüder: Zalman, Israel und Lejb. Die Familie wohnte in Łęczna. Die Mutter führte den Haushalt und der Vater war Tischler und arbeitete in Warschau in einer Werkstatt, wo Dachziegel und Dachschindel hergestellt wurden. Einer der Brüder, Israel, starb als Kind kurz vor dem Kriegsausbruch. Die Najbergs zogen dann mit ihren drei Kindern nach Łochów in der Nähe von Treblinka. Dort fing Sabina ihre Bildung in der Volksschule an.
Nach der Errichtung des Ghettos für die Juden aus der Umgebung von Łochów musste die Familie Najberg dorthin ziehen. Der Vater wurde 1941 von den Deutschen im Wald ermordet. Die Mutter Fryda sah keine Überlebenschancen im Ghetto, weswegen sie mit ihren Kindern in den Wald be Łochów floh. Die Brüder versteckten sich eine gewisse Zeit lang, danach wurden sie aber von den Deutschen ermordet. Syma und ihre Mutter irrten in den Wäldern umher, versteckten sich in Heumieten, Scheunen und ausgegrabenen Gruben. Die Mutter suchte nach einer Rettung für ihre Tochter und brachte sie zu einer Familie von ihren Bekannten in Łochów. Diese Familie erklärte sich bereit, das Mädchen aufzunehmen. In dem Moment sah Syma ihre Mutter das letzte Mal. Sie gelang nach Warschau zu Bronka Chmielińska, die nach ein paar Tagen ihre weitere Betreuung doch verweigerte. Im Sommer 1943 fing eine Odyssee von der 10-jährigen Syma, die auf den Straßen von Warschau umherirrte. Letztendlich bekam sie Hilfe von Wanda und Alfred Rachalski, bei denen sie kurz vor dem Ausbruch des Warschauer Aufstandes ankam. Nach der Niederschlagung des Aufstandes kam sie in Milanówek an, wo sie von Marta Orłowska und ihrer Tochter Halina aufgenommen wurde. Sie half ihnen im Haushalt, ging in die Kirche und empfing auch die heilige Kommunion.
Im Jahre 1946 kam Sabina Korn beim Warschauer Komitee an, das jüdische Kinder ausfindig machte, die den Krieg überlebt hatten. Zuerst kam sie nach Bytom und dann nach Łódź. Danach wurde sie mit einer Gruppe von anderen Kindern nach Palästina geschickt. 10 Jahre lang war sie im Kibbuz Gan Szmuel und leistete auch den Wehrpflichtdienst ab. Im Jahre 1956 verließ sie den Kibbuz. Ihr Ehemann, auch ein Holocaust-Überlebender, stammte aus Ostrów Lubelski. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre kehrte Sabina Korn nach Łęczna zurück, um nach Informationen über ihre Familie zu suchen. Sie hat zwei Söhne und lebt in Israel.

Karten der Erinnerung
Karten der Erinnerung sind handgezeichnete Pläne von Vorkriegsorten in Mittel- und Osteuropa, die von ihren ehemaligen Bewohnern (Juden und Nicht-Juden) erstellt wurden. Auf diese Weise versuchten sie, die Form und den Charakter ihrer Orte vor dem Vergessen zu bewahren, die durch den Zweiten Weltkrieg und die Veränderungen in der Nachkriegszeit zerstört oder radikal verändert wurden. Karten wurden häufig in Gedenkbücher (Yizkor-Buch) aufgenommen, die zum Gedenken an bestimmte jüdische Gemeinden, die während des Holocaust vernichtet worden waren, veröffentlicht wurden. Manchmal wurden die Karten von Namenslisten und sogar von Berufen begleitet, die die Einwohner ausübten. Diese Pläne sind unterschiedlich detailliert und ästhetisch gestaltet. Sie basieren in der Regel auf dem tatsächlichen Straßennetz, das das Zentrum des Dorfes abdeckt, lassen aber eine freie Wahl der Perspektive und der Proportionen zu. Die Autoren platzieren auf diesen Plänen Privathäuser und öffentliche Einrichtungen, die für das Funktionieren der gesamten dort lebenden Gemeinschaft wichtig waren. Tempel und Friedhöfe verschiedener Glaubensrichtungen sind auf jedem Plan eingezeichnet und spiegeln die Realität des Lebens in einem multikulturellen Raum wider, der sowohl von jüdischen als auch von nichtjüdischen Bewohnern bewohnt wird.
Karten der Erinnerung (Englisch)