
Marktplatz in Józefów Biłgorajski 1906, Postkarte.
Izbica war ein armes Städtchen, orthodoxe Juden waren in Überzahl. Es gab eine Synagoge und solche kleinen Gebetshäuser. Auf dem Marktplatz gab es Kopfsteinpflaster. Jeden Mittwoch kamen Bauern zum Markt. Es gab Betrieb, Kühe, Pferde, alles Mögliche. Es gab drei Ölmühle und zwei Gerbereien. Das kulturelle Leben war sehr lebendig – es gab sechs Bibliotheken und ein Amateurtheater. Die Juden lebten ihr eigenes Leben und die Christen aus den Dörfern – ihr eigenes. Es gab keinen Raub, es gab Frieden.
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Tomasz Tojvi Blatt, geboren 1927 in Izbica, aufgezeichnet 2004.
Wenn sie „nach Osten“ blickten, sahen die Deutschen vor allem fremde Kulturen. Der „Osten“ war ein Territorium in der Ferne, wenig geschätzt, abgewertet, anders im Denken und in der Kultur und von Slawen und Juden bewohnt.
Für Polinnen und Polen, die sich traditionell als in der Mitte Europas sahen, war der „Osten“ ein geopolitischer Begriff. Im Westen begrenzt von Deutschland, im Osten vom Russischen Reich stellte die Wahrung friedlicher Beziehungen zu den mächtigen Nachbarn für sie die größte Herausforderung dar. Nur selten gelang es, diese erfolgreich zu meistern.

Jüdische und nicht-jüdische Schülerinnen und Schüler*innen aus der 4. Klasse der staatlichen Schule Nr. 1 in Piaski. Die Namen aller Kinder sind bekannt.
Sammlung von Marianna Krasnodębska.
In meiner Klasse gab es nur wenige jüdische Kinder, mehrheitlich Mädchen. Sie wurden nicht anders behandelt als wir. Wir spielten miteinander, wir machten gemeinsam Hausaufgaben, wir halfen uns, wir trainierten im gleichen Sportverein. Wir waren uns nah. Hanka Drelichman konnte wunderbar Gedichte rezitieren. Mania Dreszerówna war manchmal gemein. Ryfka Tau hatte großes Talent. Die eine der beiden Kiestelman-Mädels war arm, die andere reich. Der Vater von Ryfka Majer besaß eine Soda- und Limonadenfabrik.
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Marianna Krasnodębska, geboren 1924 in Piaski, aufgezeichnet 2004.
Seit Jahrhunderten ließen sich aus deutschsprachigen Regionen vertriebene Jüdinnen und Juden in Osteuropa nieder. In den 1930er Jahren war Polen für über drei Millionen von ihnen eine Heimat geworden. Sie lebten in Hunderten von Städten und Dörfern sogenannten „Shtetln“, sprachen Jiddisch und in ihrem „Jiddisch Land“ – wie man diese jüdische Welt seit dem 19. Jahrhundert nannte – entstand eine neue und einzigartige Kultur, die sich ebenso religiös wie säkular manifestierte.

Plakat auf Polnisch und Jiddisch mit Ankündigung einer Tanzveranstaltung der Gewerkschaft der Handelsarbeiter in Lublin am 9.10.1927.
Zuhause sprachen wir drei Sprachen: Meine Eltern sprachen Jiddisch, mein Bruder und ich Hebräisch, und Gertrut, unsere Gouvernante, unterhielt sich mit uns auf Deutsch. Ich konnte außerdem genug Polnisch, um es akzentfrei zu sprechen. Das rettete mir während des Krieges das Leben.
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Nimrod Ariav, geboren 1926 in Lublin, aufgezeichnet 2005.
Extras:
Tomasz Blatt
Marianna Krasnodębska
Nimrod Ariav
Sammlung von Marianna Krasnodębska

Tomasz Blatt (Toivi Blatt) wurde am 15. April 1927 in Izbica geboren. Sein Vater, Leon Blatt, ein ehemaliger Legionär, besaß ein Spirituosengeschäft. Seine Mutter Fajga führte den Haushalt. Toivi hatte einen sechs Jahre jüngeren Bruder Hersz. Er besuchte die Volksschule in Izbica und nachmittags ging er zu Cheder, wo er Gebete und hebräische Sprache lernte.
1941 errichteten die Deutschen in Izbica ein offenes Ghetto. Bis 1942 wohnte die Familie Blatt zusammen. Ende 1942 erlangte Toivi falsche Papiere und versuchte nach Ungarn zu fliehen. Auf der Flucht wurde er aber festgenommen und verhaftet. Nach Izbica kehrte er im April 1943 zurück. Unter einer Handvoll von Menschen, die in der Gerberei arbeiteten, blieb auch seine Familie. Am 28 April 1943 wurde Toivi Blatt zusammen mit seiner Familie nach Sobibór deportiert. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder kamen in der Gaskammer um. Er selbst überstand die Selektion und arbeitete danach u.a. in einer Werkstatt im Lager. Am 14 Oktober 1943 gelang ihm die Flucht zusammen mit einer Gruppe von 300 Personen, von denen jeder Zehnte bis zum Kriegsende überlebte. Nach dem Entkommen aus dem Lager fand Toivi mit ein paar anderen Juden Zuflucht bei einem Bauer, der außerhalb von Izbica wohnte. Alle, die sich dort versteckten, wurden erschossen und Blatt wurde am Kiefer verwundet. Er floh und versteckte sich weiter in den Dörfern in der Nähe von Izbica – Ostrzyca, Mchy, wo er sich bis zum Kriegsende aufhielt.
Nach der Befreiung von der Region im Sommer 1944 kam Blatt nach Lublin und zog in die Kowalska-Straße 4. In der Stadt fand er eine Anstellung in einer Schlosserwerkstatt. Eine kurze Zeit lang diente er in der Polnischen Volksarmee und nahm an einer Schulung in der Politischen Schule für Offiziere in Łódź teil. Seit Sommer 1948 arbeitete er in Puck als jüngerer Referent bei der Niederlassung des Kreisamtes für Öffentliche Sicherheit (Powiatowy Urząd Bezpieczeństwa Publicznego) in Wejherowo. Im Herbst 1949 wurde er disziplinarisch vom Dienst entlassen. Im Jahre 1957 emigrierte er nach Israel, ein Jahr später ließ er sich in den USA nieder. Dort fing er an, sich mit der Dokumentation der Shoah zu befassen. 1979 nahm er das Gespräch mit einem der Anführer des Aufstandes in Sobibor, Alexander „Sascha“ Petscherski, auf. 1983 führte er ein Interview mit einem ehemaligen SS-Offizier aus Sobibor, Karl Frenzel. Die Aufzeichnung von diesem Gespräch wurde in der deutschen, polnischen und israelischen Presse veröffentlicht. Tomasz Blatt war Zeuge in den Prozessen gegen NS-Verbrecher. Seine Erinnerungen verfasste er in den Büchern (deutschsprachige Versionen): „Nur die Schatten bleiben: Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór: Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor“ (2000) und „Sobibór. Der vergessene Aufstand. Bericht eines Überlebenden“ (2004). Auf Basis von seinen Erinnerungen entstand der Spielfilm „Escape from Sobibor“ (1987), der mit zwei Golden Globes ausgezeichnet und mehrmals zum Emma-Preis nominiert wurde. Das Schicksal von Tomasz Blatt wurde auch von Hanna Krall in der Reportage „Autoportret z kulą w szczęce“ (deutsch: „Porträt mit Kinnladensteckschuss“) thematisiert.
Tomasz Blatt lebte in Santa Barbara in Kalifornien. Zum 70. Jahrestag des Aufstandes in Sobibor wurde er mit dem Offizierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen für Tapferkeit und heldenhafte Haltung während des Aufstandes und für außerordentliche Verdienste bei der Tätigkeit zur Aufrechterhaltung der Erinnerung an den Holocaust ausgezeichnet. Er hatte drei Kinder, Hanna, Rena und Leonard, sechs Enkelkinder und vier Urenkelkinder. Tomasz Blatt starb am 31. Oktober 2015 in Santa Barbara in Kalifornien. Er war 88 Jahre alt.

Marianna Krasnodębska, geboren Jarosz, kam am 10. Oktober 1923 in Piaski zur Welt. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater Ignacy Jarosz war Beamter und Bauarbeiter und ihre Mutter Anna Jarosz führte den Haushalt. Marianna hatte sechs Brüder und eine Schwester. Die Familie Jarosz wohnte im Haus in der Lubelska-Straße 75.
Im Jahre 1937 absolvierte Marianna die Volksschule Nr. 1 in Piaski. Danach setzte sie ein Jahr lang ihre Schulbildung im Gymnasium der Kanonischen Schwestern in Lublin fort, das sich in der Podwale-Straße 11 befand. Nach weniger als einem Jahr wechselte sie in eine obere Handelsschule an ihren Heimatort und machte den Schulabschluss vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Während des Zweiten Weltkrieges war Marianna im Untergrund tätig. 1940 trat sie dem Verband für den bewaffneten Kampf (poln. Związek Walki Zbrojnej – ZWZ) und ein Jahr später dem Militärdienst der Frauen ZWZ-AK bei. Unter dem Decknamen Wiochna war sie als Gruppenleiterin und Meldegängerin zwischen der Heimatarmee (AK) und der Jüdischen Kampforganization (ŻOB) in Piaski tätig. Sie erstellte falsche Papiere für die Juden aus Piaski, versorgte diese Menschen mit Lebensmitteln und Kleidung und half unmittelbar beim Verstecken der Flüchtlinge aus dem Ghetto Piaski. Nach dem Krieg hatte Marianna wegen ihrer Tätigkeit in der Heimatarmee Probleme, eine Arbeit zu finden. Sie betrieb einen Laden in Piaski, aber private Tätigkeiten wurden durch den Staat erschwert. Im 1950 heiratete Marianna und zusammen mit ihrem Mann wohnte sie in Poznań und dann in Leszno. Im Jahre 1956 kehrte das Ehepaar in die Lubliner Region zurück und ließ sich letztendlich in Lublin nieder. Marianna Krasnodębska führte den Haushalt und übte ehrenamtliche Tätigkeit aus. Nach dem Ende der Volksrepublik Polen nahm sie an patriotischen Ereignissen und Veranstaltungen anlässlich verschiedener Jahrestage teil. Als Zeitzeugin unternimmt sie Bildungsarbeit an Schulen und Bibliotheken in Lublin und in der Lubliner Woiwodschaft. Im Alter von 100 Jahren beteiligt sie sich immer noch aktiv an den Treffen mit Jugendlichen.
Im Jahre 2001 wurde Marianna Krasnodębska zusammen mit ihren Eltern und Brüdern mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern” geehrt, weil sie während der deutschen Besatzung in Piaski bei Lublin das Leben von 13 Mitgliedern der jüdischen Familien Honig, Huberman und Lewin gerettet haben. Sie bekam auch viele Medaillen und staatliche Auszeichnungen, u.a. Kommandeurskreuz des Ordens der Polonia Restituta (2008), Medaille „Pro Bono Poloniae“ (2020), Medaille „Für Verdienste für die Stadt Lublin“ (2022) und das Ehrenabzeichen „Für Verdienste für die Lubliner Woiwodschaft”. Marianna Krasnodębska hat zwei Kinder und lebt in Lublin.
Nimrod Ariav (Szolem Cygielman) wurde am 24. September 1926 in Lublin geboren. Die Eltern – Rajzla Matla (Marta), geboren Wajsbrodt, und Lejb Cygielman. Nimrod hatte einen Zwillingsbruder – Abraham. Er wuchs in einer Wohnung in der Nowa-Straße 17 in Lublin auf. Die Familie seines Vaters stammte aus Lublin, der Großvater von Nimrod – Izrael Dawid – wohnte in der Kowalska-Straße 8. Die aus einer wohlhabenden Familie aus Bełżyce stammende Mutter von Nimrod war in der zionistischen Bewegung tätig, deswegen schickte sie ihre zwei Söhne in eine Schule des Vereines „Tarbut“ mit Unterrichtssprache Hebräisch. Danach fingen die beiden Brüder an, das Jüdische Gymnasium in der Niecała-Straße 3 in Lublin zu besuchen.
Im Jahre 1940 zog die Familie nach Bełżyce, wo sie sich bei ihren Verwandten aufhielten. Nimrod Ariav arbeitete dort als Aushilfe im Kraftwerk. Am 2. Oktober 1942 wurde sein Vater, Lejb Cygielman, erschossen. Ende 1942 zog Nimrod nach Warschau, wo er das Leben auf arischen Papieren anfing und sich unter dem Namen Henryk Górski versteckte. Er fing an, am geheimen Unterricht an der Śniadecki Oberschule teilzunehmen und schloss sich der Armia Krajowa (deutsch: Heimatarmee) an. Im April 1943 holte er nach Warschau seinen Bruder Abraham. Sie bezogen eine Unterkunft in der Sienna-Straße zusammen mit dem jüdischen Ehepaar Rajs – Jakub und seiner Frau Anna – später bekannt als Anna Langfus. Nach ein paar Monaten wurden sie dekonspiriert, und Abraham kam bei der Verhaftung ums Leben. Nimrod gelang die Flucht. Er änderte seinen Namen in Jerzy Eugeniusz Godlewski und wechselte den Wohnort. Zu jener Zeit versteckte sich in Warschau auch seine Mutter. Während des Warschauer Aufstandes beteiligte sich Nimrod Ariav an den Kämpfen in der Sienna-Straße und in der Altstadt, wo er schwer verwundet und über Abwasserkanäle evakuiert wurde. Nach der Niederlage des Aufstandes kam er ins Krankenhaus nach Krakau, dort erlebte er die Befreiung im Januar 1945.
Im Jahre 1945 kehrte Nimrod Ariav kurz nach Lublin zurück, von wo aus er nach Łódź weiterzog. Ende 1945 verließ er Polen und reiste nach Deutschland ab, wo er das Studium an der Universität in München aufnahm. Gleichzeitig beteiligte er sich am illegalen Transport der Juden von Deutschland nach Italien. Von Deutschland gelangte er nach Frankreich, wo er Kommandant eines Schulungslagers der Hagana wurde. 1948 reiste Nimrod nach Israel aus und trat in die Armee ein. Er diente in den Luftstreitkräften und nahm an den in diesen Jahren geführten Kriegen zwischen Israel und den arabischen Staaten teil. In der Armee verbrachte er sieben Jahre, danach verließ er das Militär im Rang eines Hauptmanns. In den Jahren 1954-1973 arbeitete er für ein israelisches Flugunternehmen (Israel Aircraft Industries). Danach gründete er ein eigenes Flugunternehmen mit Niederlassungen auf der ganzen Welt: in den USA, in Großbritannien und in der Schweiz. Mit seiner Frau Odette hatte Nimrod zwei Söhne: Abraham und Ariel. Ab 1987 kam er regelmäßig nach Bełżyce, wo er die Erneuerung des jüdischen Friedhofs durchsetzte.
Nimrod Ariav starb am 3. August 2023 im Alter von 97 Jahren in Tel Aviv.
Sammlung von Marianna Krasnodębska
- Reihe, von links sitzen: Heniek Bogudziński, Moniuś Kuriański, Zygmunt Sztajdel, Bolek Winiarczyk, Józio Wójcik.
- Reihe, von links: Stasia Galewska, Gabrysia Jurkówna, Pelaszka Serwinowska, Małka Flejszer, Janka Zajączkowska, Todzia Galewska, Irka Makowiecka, Todzia Podsiadło, Mania Polisecka, Marysia Łysakowska, Sura-Sara Kiestelbaum, Elżunia Kaczmarska.
- Reihe, von links: Gienia Kowalewska, Jadzia Mazurkówna, Stachunia Wożniakówna, Władzia Szałajka, Zosia Brzezicka, Marianna Jarosz, Marysia Dudkówna, Klassenlehrerin Maria Kozłowska-Drylska, Krysia Cieślińska, Małka Zycmanówna, Sara N. N.
- Reihe, von links: Itka Kanarówna, Rywka NN, Irka Siekówna, Danka Gorgołówna, Rywka Zając, Stasia Grzybowska, Chajka Fiszer, oben Rawka Majer.
Auf dem Zaun sitzen: Antek Pędzisz, Stefan Pitucha, Staś Motylewski, Stasiek Wroński, Gienek Sosnowski, Maniuś Korbus.
Hinter dem Zaun blicken: Roman Łysakowski, Maniek Wroński, Roman Kozak hervor.